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Corona einmal anders betrachtet

von Sabrina Ebelnkamp

Wir haben der Natur den Atem genommen, jetzt antwortet sie!

Einige philosophische Anmerkungen

Der Stamm, der größer als sein rechtes Maß ist, von dem wird das Zuviel weggeschnitten. (altes Ägypten)

Wir haben versäumt, „dem Glück ein Maß zu setzen“, wie es uns der griechische Dichter Pindar ans
Herz gelegt hatte. Vergebens warnte er: „Doch heftiger stachelt / Die Torheit uns, / das Unerreichbare /
sehnend zu wünschen“. Jetzt setzt uns das Glück ein Maß, und allen fährt es in die Glieder. Es war
damit zu rechnen, dass in einigen Jahren die Natur der Unfähigkeit des Menschen, sich selbst, seinen
ungezügelten Begierden, seinem berechnenden Denken und der rücksichtslosen Ausbeutung mit
gewaltigen Umweltkatastrophen die Grenzen aufzeigen wird. Diese Aussicht besteht nach wie vor.
Aber offenbar wollte die Natur nicht so lange warten. Vielleicht leidet sie jetzt schon zu sehr an
Atemnot und Überhitzung und wollte sich schon jetzt ein wenig Luft und Abkühlung verschaffen. Sie
holt sie sich bei denen, die ihr beides streitig gemacht haben, bei uns Menschen.

Schon die Bankenkrise 2008 hätte uns lehren können, bescheidener zu werden. Aber wir vergessen
schnell. Von der raschen wirtschaftlichen Erholung, dem rasanten Wachstum neuer Märkte und der
digitalen Entwicklung berauscht und verblendet, hielten wir uns alsbald wieder für allmächtig. „Maß
und Mitte zu bewahren ist selten geworden“, klagte Konfuzius vor 2600 Jahren. Jetzt hat ein erneuter
Wirkungstreffer eingeschlagen, wie heftig, weiß noch keiner, aber jeder bekommt ihn zu spüren.
Wieder trifft es uns unvorbereitet, weil wir nicht dazulernen wollten. Wir hätten es wissen können,
mahnten doch schon die alten Griechen „Nichts zu sehr!“ Und in Fernost schrieb uns Laotse ins
Stammbuch:

„Die Welt erobern und behandeln wollen,
ich habe erlebt, dass das misslingt. ...
Wer sich die Natur untertan macht, verdirbt sie ...
Darum meidet der Weise
das Zusehr, das Zuviel, das Zugroß.“

Aber die Weisheit ist ein seltenes Gut. Sie hatte noch nie eine Chance gegen die Macht der Wirtschaft
und die Natur des Menschen. Dass ein Weiser die Geschicke einer Gemeinschaft lenkte, geschah so
selten, wie der Vogel Phönix auf die Erde kommt: nach Seneca alle 500 Jahre.

Hat das, was gerade geschieht, etwas mit unserer Unmäßigkeit zu tun? Vielleicht nicht, vielleicht
doch. Dass alles leicht kippen könnte, hätte uns bewusst sein müssen. Die Geschichte verläuft in
Zyklen und hat immer gezeigt: Dem Auf folgt ein Ab, dem Ausdehnen ein Zusammenziehen, dem
Einatmen ein Ausatmen, für Goethe die „ewige Formel des Lebens".

„Wissenschaftlich“ erwiesen ist das freilich nicht. Aber von dem Wenigsten, was in der Welt ist und
geschieht, kennen wir die Gesetze. Unendlich vieles liegt nach wie vor im Dunkeln, trotz all der
atemberaubenden Fortschritte der Wissenschaft. Das wird uns heute angesichts unserer
Machtlosigkeit wieder deutlich. Also müssen wir uns in vielem, was wir jeden Tag zu entscheiden
haben, mit Hypothesen und Spekulationen begnügen. Momentan treffen die Regierungen im
Minutentakt allerwichtigste Entscheidungen und müssen dabei große Lücken im Wissen mit
Annahmen und Mutmaßungen auffüllen, die am plausibelsten erscheinen.

Dass das, was gerade geschieht, immer möglich ist, hätte uns bekannt sein können. Es ist gerade
einmal 100 Jahre her, dass die „Spanische Grippe“, die übrigens nicht in Spanien, sondern
wahrscheinlich in den USA begann, zwischen 25 und 50 Millionen Menschen das Leben kostete. Wir
hatten es vergessen oder verdrängt. Mit diesem Vergessen hat das, was gerade geschieht, freilich
nichts zu tun. Das Vergessen ist aber der Grund für die irrationale Panik, die bei vielen ausgebrochen
ist. Das Schlimme an Schicksalsschlägen ist, dass sie uns meistens unvorbereitet treffen. So auch jetzt.
Wir glaubten, wir hätten alles unter Kontrolle, hätten uns alles verfügbar gemacht. Dass wir im
„Unversicherbaren“ leben, wie der Schriftsteller Hans Erich Nossack meinte, ist den Wenigsten
bewusst. Vergessen haben wir die Worte Senecas: „Nie habe ich dem Schicksal getraut, auch wenn es den
Eindruck machte, Frieden zu halten." 

So ist es doppelt schmerzhaft, wenn eintritt, womit keiner rechnete und worauf keiner innerlich
eingestellt war. Die alte „praemeditatio malorum“, die Übung innerer Vorbereitung auf den Eintritt
leidvoller Ereignisse und den Wandel von guten zu belastenden Lebensphasen, gehört nicht zu
unserem aktiven Weisheitswissen. So ist der Aufprall heftig, erschüttert uns bis ins Mark und schaltet
bei vielen Vernunft und Besonnenheit, Maß und Mitte aus. Sie verlieren innere Gelassenheit und
Distanz, die zu ruhiger, um- und weitsichtiger Überlegung und entsprechendem Handeln befähigen.

Wie dem auch sei, die Wende ist da, global, allgegenwärtig und sie trifft jedermann. Jetzt gilt es
Senecas „Kunst des Tragens“ zu praktizieren: „Begegnen wir den Schwierigkeiten mit kühlem
Verstande: auch das Harte kann erweicht und das Enge erweitert und die Last minder drückend gemacht
werden, wenn man sich nur auf die Kunst des Tragens versteht.“ Es gilt, besonnen und vernünftig zu
bleiben. „Ein großes Unglück ist es”, wie ein griechischer Philosoph sagte, „das Unglück nicht
ertragen zu können.” Nehmen wir uns Odysseus zum Vorbild, mit dem Homer das Ideal eines
weisen Menschen zeichnete. Ihm blieb kein Leiden, kein Verlust und kein Schicksalsschlag
erspart. Aber er verstand es zu dulden. Deshalb nannte ihn der Dichter den „großen Dulder”
oder auch den „Leidgeübten”. Zum gelingenden Leben gehört neben besonnenen
Entscheidungen und Verhaltensweisen auch die Fähigkeit, aufrecht und tapfer zu erdulden, was
wir nicht ändern können. Diese Kunst bewährt sich vor allem in schweren Zeiten.

Aber übersteigt nicht das, was wir gegenwärtig erleben und was noch zu befürchten steht, unsere
Fähigkeit zu erdulden? „Es gibt keine noch so schreckliche Kunde, noch ein Schicksal, noch ein durch
den Zorn der Himmlischen gesandtes Unglück“, pflegte Sokrates zu sagen, „das die menschliche Natur
nicht mit Geduld aushalten könnte.“ Schwer fällt es nur demjenigen, der sich nie mit einer Haltung
der Demut und Bescheidenheit vertraut gemacht, der jenes „Erkenne dich selbst“, nämlich als ein
begrenztes, sterbliches, schwaches Wesen, das unerbittlich dem Auf und Ab des
unberechenbaren Lebens ausgesetzt ist, nie sich klargemacht und verinnerlicht hat. Leider gilt
das offenbar für viele Menschen.

Die Weisen des Altertums gingen sogar noch einen Schritt weiter. Duldsamkeit, Demut und
Bescheidenheit ist nur der erste Schritt, schweren Herausforderungen des Lebens zu begegnen.
Die hohe Schule weiser Lebensführung im Umgang mit dem Schicksal und seinen
Auswirkungen, ist es, „ein widriges Schicksal umzudrehen”, wie sich Diogenes von Sinope
ausdrückte, der Philosoph aus der Tonne. Sein chinesischer Geistesverwandter Konfuzius meinte
dasselbe, als er sagte, der „Weise verstehe, Unglück in Glück zu verwandeln”. Das wird uns
vollständig kaum gelingen. Wir sind keine Weisen. Aber das Beste aus der gegenwärtigen
Situation zu machen, das ist das Gebot der Stunde, das ist stets möglich und darum sollte sich ein
jeder ernsthaft bemühen. Ob uns das gelingt, hat viel mit unseren inneren Haltungen zu tun, mit
der Bereitschaft und Aufgeschlossenheit, die Zeichen zu verstehen, mit der Fähigkeit, die
Perspektive zu wechseln, ob wir bei all dem Schrecklichen, Leidvollen, Tragischen und
Traurigen, das die jetzige Situation mit sich bringt, nicht auch etwas aus ihr lernen können.

Wir können zunächst einmal an die Natur denken, die wir seit langem schon rücksichts- und
maßlos ausbeuten, obgleich wir doch selbst ein Teil von ihr sind. Sie kann für ein paar Momente
wieder atmen, sich ein wenig erholen und ausruhen. Sie hat uns so viel Gutes geschenkt und tut
es immer wieder.

Wir selbst können innere Einkehr halten, zu uns kommen, uns mehr um die Familie und Freunde
kümmern, ihre Gefühle teilen, uns hingeben, mitschwingen und uns anrühren lassen.

Wir können darüber nachdenken, wer wir sind, was wichtig in unserem Leben ist und was nicht.
Viele haben jetzt die Zeit, die Muße und den Leidensdruck. „Manche kommen erst in einer
Trauerzeit zu sich selbst”, sagte Konfuzius.

Wir können uns gegenseitig beistehen, zusammenhalten, Rücksicht nehmen, helfen und trösten,
mitfühlen und mitleiden, unsere Sensibilität und Mitmenschlichkeit wiederbeleben, die bei
einigen von einer Lawine von Konsum, Erlebnishunger und Hektik verschüttet wurde.

Wir können eine Vorstellung davon bekommen, wie elend das Leben der Flüchtlinge in den
Auffanglagern und anderswo sein muss. Vielleicht entwickeln wir dann mehr Mitgefühl und
Hilfsbereitschaft.

Wir können daran denken, an welch seidenem Faden unser Schicksal und unser Wohlstand
hängen. Dass alle und alles der Vergänglichkeit unterliegt, auch das, was gerade geschieht. Wir
können deshalb dankbar sein für das, was wir genossen haben und hoffentlich bald wieder
genießen dürfen.

Wir können die Kunst des Loslassens lernen.

Wir können lernen, dass Dankbarkeit, Demut und Bescheidenheit der Schlüssel zu einem
gelingenden Leben sind; wie wenig manchmal nötig ist, um zufrieden zu sein. Dass wir dafür
nicht viele Reisen brauchen.

Einige können die Erfahrung machen, dass sich ein Teil ihrer Arbeit auch gut von zu Hause
erledigen lässt und dass man auf diese Weise wieder näher bei der Familie lebt.

Wir werden gezwungen, von unserem hohen Ross herunterzusteigen und zu erkennen, dass wir
keineswegs alles in der Hand haben, dass keineswegs alles verfügbar und in Reichweite ist, dass
auch wir irgendwo nur dahintreiben wie ein Stück Holz im großen Strom des Lebens.

Wir könnten uns heilen von einer Krankheit, die die alten Griechen “Pleonexie” nannten, das
„Mehr-haben-Wollen”. Vielleicht erkennen wir dabei, dass es doch noch Alternativen zum
Wachstumsdogma der Wirtschaft und dem Denken in Sachzwängen gibt, wie es die Politik
beherrscht.

Vielleicht begreifen wir endlich, dass wenn wir unsere Denk-, Wollens- und
Verhaltensgewohnheit nicht ändern, sich nichts ändert und welche Auswirkungen das Immer-weiter-
so hat. Wir können ein Vorgefühl dafür entwickeln, was auf uns zukommt, wenn es jedem
Einzelnen von uns nicht gelingt, das Steuer herumzuwerfen und umzudenken.

Wir können uns einüben in andere Lebens- und Denkweisen und dabei die Erfahrung machen:
Wir können auch anders!

Vielleicht könnten wir dann endlich begreifen, wie sehr wir auf die Natur angewiesen sind, wie
sehr unsere Gesundheit und unser Wohlergehen abhängen von einer gesunden Natur, deren
innere Harmonie und organisches Gleichgewicht wir nicht zerstören, ohne auch uns selbst
zugrunde zu richten.

Wir könnten lernen, auch in schwierigsten Zeiten die eigene Mitte und Integrität zu bewahren,
das Unvermeidliche anzunehmen und trotz allem gelassen und - soweit möglich - heiter zu
bleiben.

Konfuzius geriet in Gefangenschaft, trotzdem sah man ihn singen und die Laute spielen: „Wer in
der Erkenntnis, dass alles dem Schicksal unterworfen ist und seine Zeit hat, in der größten Not nicht zagt,
der hat den Mut des Heiligen."

Albert Kitzler, gestrandet in Marrakesch, den 20.03.2020, auf die Evakuierung wartend

Der Autor ist Begründer und Leiter der Schule „Maß und Mitte“ für antike Lebensweisheit. Er hat
mehrere Bücher geschrieben, u.a. „Wie lebe ich ein gutes Leben? Philosophie für Praktiker“, „Denken
heilt! Philosophie für ein gesundes Leben“, „Leben lernen – ein Leben lang“, „Vom Glück des
Wanderns. Eine philosophische Lebensbegleitung“. Am 01. April erscheint „Weisheit to go. Große
Philosophie für kurze Pausen“. www.massundmitte.de

 

Eine gute Zeit wünscht Ihnen

Ihr Frank Hartmann

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